Gemeinschaftliches Wohnen für Senior:innen in Wiesbaden
Der Bedarf nach gemeinschaftlichem Wohnen in Wiesbaden steigt und scheint auch für Senior:innen ab 70 eine interessante Wohnform zu sein. Vor allem Frauen wendeten sich derzeit vermehrt an die Koordinierungsstelle, um sich nach Wohnangeboten zu erkundigen. Jedoch sei vielen nicht bewusst, dass Gemeinschaftswohnprojekten in der Regel ein langer Planungsprozess in der Gruppe vorausgeht, der ein hohes Maß an Eigenverantwortung erfordert. Viele sähen sich hiermit überfordert und wünschten sich ein weniger aufwendiges Angebot als Alternative zum Seniorenheim.
Diese Nachfrage nahm die Koordinierungsstelle WohnInitiativen, Baugemeinschaften + Genossenschaften der SEG Wiesbaden zum Anlass und lud unter anderem in Kooperation mit der Hochschule RheinMain zu einem Online-Expertenaustausch ein, um den Bedarf zu diskutieren und über erste Ideen eines zu entwickelnden Wohnprojekts für Senior:innen ins Gespräch zu kommen.
Erkenntnisse und Ideen für Wiesbaden
Begrüßt wurden die 26 Expert:innen der Seniorenarbeit und des gemeinschaftlichen Wohnens von Herrn Oberbürgermeister Mende, der die Schirmherrschaft für die Veranstaltung übernommen hatte. Auch er betonte, dass Vereinsamung zunehmend ein Problem in unserer alternden Gesellschaft sei, dem man mit neuen Lösungen begegnen müsse und wolle. Er erhoffe sich daher von dieser Initiative gute Erkenntnisse und Ideen für Wiesbaden. Der Austausch, der von Heidi Diemer von der Koordinierungsstelle moderiert wurde, begann mit drei Fachvorträgen, die als Einstieg in die Diskussion dienen sollten.
Als Erster referierte Prof. Walid Hafezi, Professor für Soziale Gerontologie an der Hochschule RheinMain, über den Wandel der Lebensstile, die heute eine größere Relevanz für Wohngewohnheiten hätten als Kategorien wie zum Beispiel das Alter oder das Geschlecht. Daher müssten auch bestehende Versorgungsstrukturen hinterfragt und Wohnkonzepte „für Ältere“ neu gedacht werden. Denn in der postmodernen Gesellschaft gäbe es „die Alten“ nicht mehr, das kalendarische Alter ließe nicht auf ein bestimmtes Verhalten schließen. Menschen suchten stärker das Besondere, das zu Ihnen passt und seien nicht zu verallgemeinern. Bei der Konzeptgestaltung von Wohnen müssten daher individuelle Werte und Einstellungen in einer bestimmten Lebensphase berücksichtigt werden. In Wohnprojekten sei dies unter anderem der Wert „in Gemeinschaft leben“. Der Trend der Individualisierung spiegele sich auch in der urbanen Infrastruktur (zum Beispiel Mobilität, Kultur) wieder, die in Planungen einzubeziehen sei. Dies stelle für Konzepte gemeinschaftlichen Wohnens auch eine Chance dar, durch vernetzte Ansätze den hochgradig flexiblen und mobileren Lebensstil der Menschen abzubilden und damit Lebensqualität zu schaffen.
Weniger Zeit für Familycare
Dr. Romy Reimer, Leiterin des Projektes „Wissen, Information, Netzwerke – WIN für Gemeinschaftliches Wohnen“ in Hannover, stellte die Arbeit des FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e. V. Bundesvereinigung vor und präsentierte die Idee quartiersbezogener (Plus-) Bausteine (wie ambulante Pflege-WG, Quartierstreff, Beratungsangebote etc.) gemeinschaftlichen Wohnens für Senior:innen. Careangebote würden immer wichtiger, da der Anteil hochaltriger Menschen wachse und gleichzeitig immer weniger Zeit für Familycare bliebe – zum Beispiel in Doppelverdiener-Familien. Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels stelle sich die Frage, was es für zukunftsfähige Gemeinschaften brauche. „Barrierefrei, bezahlbar und Bausteine für Pflege und Versorgung“, so solle es nach Dr. Reimer sein, auch mehr Inklusion und Teilhabe sei durch spezifische Wohnangebote notwendig. Während sich gemeinschaftliche Wohnprojekte durch das Grundprinzip Kooperation und Mitbestimmung auszeichneten, beinhalte das Konzept gemeinschaftlich Wohnen Plus zusätzlich Quartiersbausteine wie Beratungs-, Pflege- und Betreuungsangebote, ergänzt durch top-down (Kooperations-)Projekte. Als Gelingensbedingung für ein gutes Wohnprojekt nannte Reimer eine unterstützende Kommune. Mit Wir am Klingenborn in Hofheim am Taunus und BeTriftin Niederrad stellte Dr. Reimer zwei Beispiele für gelungene Wohnprojekte dem Onlinepublikum vor.
Architektur als Prozess
Joachim Fischer konnte als Architekt und Projektentwickler der WOGEBE in Trier gleich zwei Perspektiven in die Diskussion einbringen. Architektur sei nicht nur Gebäude – sondern ein Prozess, an dessen Anfang die Frage stehe: Was hat man mit dem Projekt konkret vor? In seinem Beitrag zum Thema machte er deutlich, dass Architektur die Gemeinschaft fördern könne, sie aber nicht herstellen. Hierzu benötige es eine „funktionierende“ Gemeinschaft, die Gemeinsamkeiten verbinde und die es in einem aufwendigen Prozess zu gestalten und zu steuern gelte. Wie in den vorgestellten Projekten Thyrusstraße sei es wichtig, Benutzer:innen und Bewohner:innen des Quartiers transparent in die Planungen einzubeziehen und die Architektur verständlich zu machen, zum Beispiel wie Außenräume mit Aufenthaltsqualität die Gemeinschaft und Begegnung förderten.
Großes Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen
Im Anschluss an die Vorträge wurden die geladenen Expert:innen aus der Seniorenarbeit, der Stadtplanung, der Freiwilligenarbeit, der Wohnungsgesellschaft und der Landesberatungsstelle für gemeinschaftliches Wohnen beteiligt und von Heidi Diemer zu Fragen und Diskussion eingeladen, um erste Einschätzungen aus Ihrer persönlichen Arbeit und Erfahrung zum Thema auszutauschen. Nicht alle teilnehmenden Vertreter:innen waren bisher mit gemeinschaftlich Wohnen vertraut gewesen, zeigten sich aber sehr offen und interessiert, sich hier zukünftig stärker zu vernetzen und gemeinsam an neuen Ideen und ggf. einem konkreten Projekt für Senior:innen in Wiesbaden mitzuwirken. Auch Thomas Keller, Geschäftsführer der GWW, könne sich eine Kooperation als Mietprojekt vorstellen, wobei sich allerdings noch ein passendes Grundstück finden müsse.
Für die weitere Zusammenarbeit zur Entwicklung eines Wohnkonzepts für Senior:innen war der Online-Fachaustausch ein gelungener Auftakt, der ab dem 22.11.21 in einer AG fortgesetzt und moderiert werden soll und für den sich spontan Freiwillige unter den Expert:innen gefunden haben.